Von wegen Lesen

Lesen ist derzeit eines der heissen Themen in den USA, gibt es doch, trotz Schulobligatorien, immer mehr Analphabeten in diesem Staat. Aber ich will hier nicht die Problematik des hiesigen Schulsystems und der Mehr- respektive der Unsprachigkeit durchleuchten, sondern auf ein Phänomen zu sprechen kommen, das den Schweizer - oder die Europäerin allgemein - zumindest überraschen dürfte.

"Everything is big in the USA" gilt wirklich für alles, angefangen bei den Portionen, die man im Restaurant (Fastfood-Ketten ausgenommen) erhält, bis hin zu den Einkaufs-Malls, die neben Dutzenden von Geschäften auch verschiedene Restaurants und meistens auch noch drei vier Kinos enthalten.bücher lesen Und es gilt auch für die "Buchhandlungen", wie sie in der Schweiz so schön genannt werden. Doch es ist nicht die Grösse dieser Lesestoff-Lieferanten, die ich hier als aussergewöhnlich anders erwähnen möchte - es ist die Art, wie dieser Lesestoff den Interessenten zugänglich gemacht wird.

Würden Sie es nicht auch aussergewöhnlich finden, dass in der Ecke, wo all die Publikationen nach Themen geordnet aufgereiht sind, so viele Leute am Lesen sind? An einen Samstag Nachmittag zählte ich im lokalen (also relativ kleinen) Barnes & Noble (Wilshire and 3rd Street) sage und schreibe 28 Leute jeglichen Alters, die sich durch die angebotenen Magazine lasen. Einige stehen und blättern, aber wer einen interessanten Artikel gefunden hat, setzt sich auf die riesige Fensterbank, oder, wenn dort alles besetzt ist, einfach auf den Boden und liest. Meist ist das oberste Heft einer Verkaufsbeige schon recht "verlesen". Hefte, die wegen ihres Inhaltes (sog. Männermagazine) oder wegen einer beigelegten CD-ROM in Plastik verpackt sind, werden nicht verschont: Mindestens eines davon ist ausgepackt, die CD oft verschwunden - bei uns ein Fall für die Polizei.

Aber es kommt noch schöner: In der (elektronisch gesicherten) Bücherabteilung stehen Sofas, Stühle mit Tischchen, ja ganze Leseecken sind eingerichtet. Meistens ist der "Buchhandlung" auch ein Kaffeehaus angegliedert, wo man sich mit Getränken eindecken kann, bevor man sich mit seiner Lieblingslektüre irgendwo gemütlich niederlässt. Die Tischchen sind vor allem für Studenten (jeglichen Alters) gedacht, die sich die Bücher nicht in irgend einer Bibliothek mühsam auftreiben müssen, sondern hier immer die neusten Ausgaben zur Verfügung haben.

Und da in den USA jeder jeden anquatschen kann ("Oh, I know that book. You gonna like it. It's very nice!"), kommt man mit einer Sofanachbarin schnell mal in ein mehr oder weniger interessantes Gespräch, diskutiert andere Bücher desselben Autors oder gleitet ab in Lebensphilosophien oder Kochrezepte - je nachdem, welchen Lesestoff man sich vorgängig geangelt hat.


Bestimmt fragen Sie sich nun, wovon der Laden lebt. Es scheint, dass durch diese Dienstleistung die Verkaufsumsätze enorm stiegen. Auf alle Fälle geht es den Buchhandlungen hierzulande mindestens ebensogut, wie usa notizendenjenigen in der Schweiz, obschon die Konkurrenz auch in dieser Sparte grausam ist. Die bekannteste Discountkette - Crown Books - garantiert die besten Preise: Die Top Ten der nationalen Hardcovers werden dort mit 40% Rabatt angeboten, die Paperbacks mit 25%, alle übrigen Bücher mit mindestens 10%. Der Unterschied zu den Nichtdiscountern? Die Leseecke ist kleiner und nur mit Holzbänken ausgestattet.

Und zusätzlich haben sich in den letzten Monaten Internetanbieter, allen voran amazon.com, einen Löwenanteil gesichert.

Sicher: Analphabeten gibt es hier zulande viele, aber für die des Lesens tauglichen sind die Buchhandlungen ein Paradies.

Christian Hunziker

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